Albina - Ein kleines Leben in Stille

Fixiert auf die Mutter ohne Verbindung zur Außenwelt
Sie war gerade mal 2 Jahre alt als ich sie kennenlernte. Ich saß auf dem Bürgermeisteramt einer ukrainischen Kleinstadt. Zone 4 nennt man die Gegend, ca. 200 km entfernt von Tschernobyl, wo sich 1986 eine der größten Fallout Katastrophen in der menschlichen Geschichte ereignete.
Albina hing wie ein kleines Äffchen, wohlbehütet am Hals von Alona und beäugelte über die Schulter ihrer Mama die Umgebung. Es war so, als traue sie niemanden um sich herum.
„Was wollten beide an diesem unwirtlichen Morgen beim Bürgermeister, warum unterbrachen sie eine Altherrenrunde, die damit beschäftigt war, die unterschiedlichsten Themen zu diskutieren?“
Alona, eine kleine zierliche Person, nicht mehr als 40 Kilogramm, etwas ausgemergelt, wirkte schwach und ängstlich. Sie bat mich, den Ausländer, um die Reparatur eines Hörgerätes, welches sie sorgsam und vorsichtig auf den großen Konferenztisch vor mir ablegte. „Meine Tochter hört so schlecht und ich glaube, die Hörhilfe ist kaputt“, sagte sie.

 

Medizintechnik der Vorzeit
Vor mir lag ein kleines, braunes Knübbelchen, das wie ein Vorkriegsmodell aussah. Ich schaute etwas hilflos in die Runde und entschied mich, ihr einige hundert Dollar zu geben, mit der Bitte, Ihre Tochter von einem Facharzt in Kiew untersuchen zu lassen.
Nach einigen Wochen, ich war wieder in Kanew, der ukrainischen Kleinstadt direkt am Dnepr und traf, wie sich später herausstellte, nicht rein zufällig, wiederum auf Alona. Noch immer hing ihr Töchterchen an ihrem Hals. Alona drückte mir einen medizinischen Befund in die Hand, den sie in einer Klinik hatte anfertigen lassen.
„Bitte helfen sie meiner Tochter Albina“. Ich versprach ihr, dieses Papier einer befreundeten HNO Ärztin in Viersen zu zeigen.

Diagnose-Check in Deutschland
10 Tage später rief mich meine Freundin, Dr. Anke Prasch, ganz aufgeregt an und sagte: „Das Kind ist taub, taub geboren“. Ich war erschrocken. „Was können wir tun Anke?“, fragte ich sie. „Ich will mir noch eine 2. Meinung von einem Kollegen einholen“. In der Diskussion mit Professor Dr. Windfuhr aus Mönchengladbach wurde ihr anfängliches Urteil bestätigt.
Albina war taub, sie lebte in ihrer eigenen Welt und konnte nichts von dem, was wir mit unseren Hörsinn erleben, erfahren. Sie konnte ihre Umwelt nur mit den Augen wahrnehmen. Die beruhigende Stimme ihrer Mutter in beängstigten Situationen konnte sie nicht hören. Sie sah nur sich bewegende Lippen.
Albina gehörte zu den zigtausenden Opfern der Tschernobyl-Katastrophe, die durch Zellmutationen lebenslänglich geschädigt sind.
Professor Dr. Windfuhr gab mir allerdings ein wenig Hoffnung, als er von den neuesten Errungenschaften in der Medizin berichtete: heutzutage kann man tauben Menschen ein Cochlea-Implantat einsetzen, mit dem die Patienten erstmals hören können. Ein sehr komplizierter Vorgang, bei dem der Mensch, nach erfolgreicher Operation, die menschliche Stimme zwar sehr technisch, wie eine Computerstimme wahrnimmt, aber in seiner Entwicklung nicht mehr beeinträchtigt wird.

Albina muss sofort nach Deutschland
Er müsse das Kind sehen, um sich ein Bild von der Lage zu machen, war sein Vorschlag. Meine Frau Elena und ich entschieden, Albina und Alona zu uns nach Viersen zu holen um sie dem Professor vorstellen zu können.

 

Der Aufenthalt in unserer Familie wurde zur Zerreißprobe. Nicht nur das jetzt zwei weitere Personen innerhalb unserer Familie unser alltägliches Leben mit uns teilten, sondern Albina wurde ätzend, aggressiv und unausstehlich. Den ganzen Tag schrie und kreischte sie sobald jemand sie ansprach.

 

Natürlich, sie war aus ihrer gewohnten und für sie behüteten Atmosphäre herausgerissen. Täglich hatte sie neue, für sie nicht einzuordnende Eindrücke zu verarbeiten. Vor allem viele, viele fremde Menschen.
Prof. Dr. Windfuhr eröffnete die Möglichkeit einer Operation, bei der jedoch Kosten anfallen könnten, die fast eine 6 stellige Eurosumme ausmachen würden. Er allerdings arbeite aus humanitären Gründen kostenlos. Toll dachte ich, aber wie kann unser Verein Ayudis e.V. dieses Problem lösen?
Wie aus heiterem Himmel tauchten plötzlich einige Spender auf, die es schließlich durch ihre finanzielle Unterstützung möglich machten, Albina operieren zu lassen. Der Heilungsprozess dauerte einige Wochen und meine Familie bemühte sich sehr um Albina.

Eine Operation war nun möglich
Dann kam der wichtigste Augenblick in Albinas Leben.
Die Technik in und um ihren Kopf herum wurde aktiviert und eingestellt. Diesen Moment werde ich niemals vergessen. Albina löste sich von ihrer Mama und stand nur da. Ihr Kopf drehte sich von links nach rechts und sie schaute in den Himmel als höre sie die vorbeifliegenden Vögel.
Tatsächlich, sie reagierte darauf. Man konnte merken, wie sie das große Tor in eine neue Welt aufstieß, eine Welt in der sie nun hören und so sein konnte wie wir. Sich mit anderen Menschen austauschen zu können war aber noch ein weiter Weg. Sie musste eine langwierige logopädische Therapie durchleben um letztendlich sprechen zu lernen.

 

Der normalen Entwicklung steht nun nichts mehr im Wege
Heute tollt sie mit ihren beiden Schwestern auf dem Spielplatz herum, ist vergnügt und wird bald eine Schülerin sein, die sich von den anderen Kindern nicht mehr unterscheidet.
Ich möchte mich an dieser Stelle, und ganz besonders auch im Namen von Albina, bei allen Akteuren, insbesondere bei Professor Dr. Windfuhr., Dr. Anke Prasch., dem Bürgermeister der Stadt Kanew, Igor Renkas., meiner Frau Elena, meiner ganzen Familie und vor allem unseren Spendern bedanken, die es ermöglicht haben, dass Albina in der Zukunft ein normales Leben in unserer Gesellschaft führen kann.