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Ivan - Eine faire Chance

Er sitzt in einer dunklen, ramponierten Schreibstube und führt die Korrespondenz seines vorgesetzten Offiziers. Die Baracke ist nicht weit von der Front entfernt. Bis tief in die Nacht donnern die Kanonen im Donbass. Ein irrsinniger Bürgerkrieg bei dem es keine Gewinner gibt und geben wird. Seit 2014 sind 14.000 Menschen diesem Wahnsinn zum Opfer gefallen.

Aus armen Verhältnissen

Ivan ist in Kanew, einer Kleinstadt nicht weit von Kiew entfernt, geboren. Er lebte in einem für die Gegend typischen, sowjetischen Plattenbau, zusammen mit seiner alleinerziehenden, kranken Mutter und seiner Großmutter. Die Lebensumstände in der gemeinsamen Behausung waren unvorstellbar. Sie lebten zu dritt von der Rente der Oma, umgerechnet von 20 Euro monatlich. Daher gab es weder Wasser, Gas oder Strom. Der Speiseplan war dem entsprechend  manchmal gab es Reis. Als die Großmutter starb war Ivan gerade 13 Jahre alt. Ihr Leichnam verblieb noch einen Monat auf dem Totenbett liegen, damit die nächste Rente noch ausgezahlt werden konnte — ansonsten hätte es wegen Geldmangels nichts zu essen gegeben.

In der Schule wurde der schmächtige Junge ständig gemobbt. Dennoch setzte er sich durch und erhielt seinen Abschluss. Er fiel bei seinen Lehrer durch einen geschärften Geist auf.Sechs Jahre später verstarb die Mutter. Jetzt war er mittlerweile 19 Jahre alt und mutterseelenallein. 

Einladung nach Deutschland

Zu der Zeit erfuhr Olena von den schrecklichen Umständen, in denen Ivan nun allein in der Wohnung im Plattenbau wohnte. Sie versuchte mit ihm in Kontakt zu kommen und lud ihn nach einiger Zeit nach Deutschland ein. In Deutschland angekommen bot sich am Flughafen dem Abholer ein schauriges Bild. Mit verschlissenen Klamotten, handgroßen Löchern in Hose und Pulli stand er unsicher da — sein erstes Mal im Ausland und dann gleich so weit. In den nächsten Wochen war er Teil unserer Familie, mit regelmäßigen Mahlzeiten und geordneten Abläufen — ein Gefühl, das für ihn neu war.

Olena begleitete ihn zurück in die Ukraine um seine Wohnsituation zu verbessern. Die Wohnung, die eher einem Verschlag glich, wurde kernsaniert und neu möbliert. Ich werde nie das Gesicht Ivans vergessen, als er den Schlüssel für sein „eigenes Reich“ bekam und ihm klar wurde, dass nun ein neues Leben beginnt.

Optimistisch in die Zukunft blicken

Ivan ist ein herzensguter Junge, hoch intelligent aber labil, wohl erbbedingt. Resultierend aus seiner Erziehung, in der korrekte Sprache keine Rolle spielte ist seine Aussprache nicht richtig ausgebildet. So wie er ist hat er sich aber akzeptiert, lernt dazu, hat Fortschritte gemacht und strahlt positiv in die Welt. Mittlerweile hat er an der Universität in Kiew sein Studium in Geschichte abgeschlossen. Meine Frau Olena und ich kümmern uns weiter um sein Wohlergehen und hoffen, dass er wohlbehalten aus seiner Militärzeit zurückkehrt. Olena hält täglich telefonischen Kontakt zu ihm. Mittlerweile haben beide eine warmherzige Mutter-Sohn-Beziehung.

An dieser Stelle bedanken wir uns ganz herzlich bei allen unseren Mitstreitern und Gönnern, die es uns ermöglicht haben, über eine so lange Zeit Ivan zu begleiten und für ihn eine lebenswerte Perspektive zu schaffen.